Impuls am Abend - Mein letzter Tag...


Wenn ich noch einen Tag zu leben hätte und mir vorstelle, wie er sein sollte, dann
sitze ich im Ohrensessel zwischen Klavier und Bücherregalen mit dem Blick nach draußen in den Garten.
Bald ist Ostern und die Natur fängt gerade wieder an zu erwachen, zu leben.
Durch die geöffnete Terrassentür dringt der Duft des Frühlings, mein Kindheitsduft der ersten Apfelblüten, ich habe ihn immer in der Nase, wenn ich will.
Erinnerungen an meine Lebenszeit überfluten mich:
mein altes Akkordeon, wer weiß wo es jetzt ist, es spielt mir das Lied meiner Kindheit, das mir aber nicht mehr einfällt, nur noch Töne, in Moll.
Farben sind da, Bilder des Lebens, gemalt von Menschen, die mir viel bedeuten.
Ja, Menschen sind da, ohne da zu sein: meine Großmutter, die Eltern, Geschwister, meine Kinder und Enkelkinder – die lebenden und gestorbenen –, Freunde…
Die Lebenden habe ich zum Essen eingeladen. Brot, Käse und Wein stehen bereit.
Natürlich würde ich ihnen gern noch all meine Weisheiten mitteilen, aber zu meinen Lebzeiten haben sie immer schon die Augen verdreht: Du mit deiner ‚Sterberei‘.
Aber auch meine Lebensweisheiten kennen sie längst, fürchte ich.
So wünsche ich, dass sie mir sagen, was ich für sie bedeutet habe; ich glaube, ich will dann nur noch gutes hören.
Die Nacht wird kühl und ich kuschele mich in meine Kamelhaardecke.
Sie sollen mir meine Texte vorlesen, die mich durch mein Leben begleitet und geprägt haben – die Schlüsselerlebnisse von Ruth Pfau, Texte von Elie Wiesel gegen die Gleichgültigkeit,
das Nicht-Bewertende, bzw. Gleichwertige von Hanns Dieter Hüsch, z.B. in „Mein Testament“ und von Georg Schwikart der Humor, gerade auch zu Sterben Tod und Trauer, Montaigne, Saramago, Märchen von der Überlistung des Todes…., aber zu allem fehlt einfach die Zeit.
Ich würde mich auch über Life-Musik freuen, nicht vom Band oder CD
 
Ich lebe gern. Aber wenn Bruder Tod dann anklopft, möchte ich sagen können: „Komm rein, die Tür ist nur angelehnt. Ich habe dich erwartet.“
Wenn ich dann den letzten Schluck Wein, den letzten Kuss probiere, soll meine Enkeltochter Ella mir meine und ihre Lieblingslieder singen.
Und wenn ich dann den letzten Atemzug mache, soll sie „O when the saints go marching in“ singen und dann hoffe ich, dass mich Hanns Dieter Hüsch an der offenen Himmelstür empfängt, um mich seinem „Lieben Gott“ vorzustellen.
 
Inge Kunz

Bild: Banksy, Southbank
London 2004

„When the time comes to leave, just walk away
quietly and don’t make any fuss“.

„Wenn die Zeit gekommen ist, gehe leise
davon und mach keinen Stress“.
 
Veröffentlicht: 20.04.2021



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