"Ein Ort, an dem Kulturdenkmale verfallen, ist wie wein Mensch der sein Gedächtnis verliert"
Predigt von Pfarrer Dr. Klaus Winterkamp zur
Sanierung der Liebfrauenkirche
Am letzten Montag vor genau 93 Jahren, am 30. Oktober 1913 wurde die Liebfrauenkirche in der Form, wie wir sie heute kennen, also einschließlich des Erweiterungsbaus gesegnet – benediziert wie das dann im Theologenlatein heißt. Das ist zwar wirklich kein Jubiläum, aber angesichts unseres Projekts, die Liebfrauenkirche im Innern zu sanieren, gibt dieses Datum Anlass, hinter allen bautechnisch und kunsthistorisch notwendigen Gründen, die eigentlichen, die existenziellen Gründe zur Sprache zu bringen, die es uns geraten erscheinen lassen, unsere Kirchen – auch unsere Liebfrauenkirche – zu erhalten, zu pflegen und zu bewahren.
Denn ein „Ort, an dem Kulturdenkmale verfallen, ist wie ein Mensch, der sein Gedächtnis verliert.“ Unter diesem Motto wirbt die Deutsche Stiftung Denkmalschutz für die Sicherung und Restaurierung von bedrohten Baudenkmälern aller Art.
Jeder Mensch will sein Gedächtnis behalten. Er will sich erinnern können, um zu wissen, wer er ist. Gedächtnis und Erinnerung garantieren Identität und Selbigkeit. Sie stellen das Kontinuum zur erlebten Vergangenheit her und halten sie lebendig, präsent. Nur wer sich erinnern kann, weiß auch, wer er ist. Was für uns persönlich gilt, gilt auch für eine Familie, eine Gruppe, einen Verband und Verein oder für ein ganzes Volk. Natürlich gilt es auch für die Gemeinschaft der an Christus Glaubenden, die Kirche. Auch wir wollen unser Gedächtnis nicht verlieren, auch als Christen wollen wir unsere Erinnerung behalten.
Unsere Liebfrauenkirche will uns dabei helfen. Deshalb ist sie ein Denkmal, nicht einfach im rechtlichen, kunsthistorisch anerkannten Sinn, sondern – viel wichtiger – ein Bauwerk, das uns denken, nachdenklich werden lassen will. Sie ist ein Denkmal, das die wesentlichen Fragen des Menschseins in uns wach halten will, und in Stein gewordener Form die Frage nach Gott quasi schon im Vorbeigehen stellt. Gerade in einer immer gottvergessener werdenden Gesellschaft, gerade in Städten, in denen immer weniger Christen leben, sind solche Gebäude wichtig. Gerade in einer Zeit, in der alles auf Machbarkeit, Effektivität, Effizienz und Produktivität getrimmt wird, sind solche Bauwerke von kaum zu unterschätzender Bedeutung: Bauwerke, die zunächst mal zwecklos sind, weil sie von dem Zwecklosen schlechthin, dem absolut diese Welt und alle Wirklichkeit überlegenen Gott zeugen; von dem Gott, der uns die Ausdauer und die Zuversicht gibt, in dieser verzweckten Welt mehr sein zu dürfen und zu sollen als ein reibungslos funktionierendes Rädchen im Getriebe. Für diesen Gott steht unsere Liebfrauenkirche hier. Sie will uns an ihn erinnern, will unser Gedächtnis an ihn tagtäglich fit und auf Vordermann halten.
Als Denkmal, als Ort des Gedächtnisses und der Erinnerung ist unsere Liebfrauenkirche ein identitätsstiftender Ort. Das gilt schon aus der Ferne für unser Stadtbild. Die Liebfrauenkirche prägt das Gesicht dieser Stadt. Die Silhouette des Turmes gewährleistet, dass wir unsere Stadt auf Fotos, auf Postkarten, im Fernsehen oder anderen Bilddokumenten wiedererkennen. Was sich so selbstverständlich anhört, wird in seiner Bedeutung erst abschätzbar, wenn wir uns daran erinnern, dass Bocholt bis kurz vor Ende des II. Weltkrieges eine „Piäperbüsse“ hatte, den Turm von St. Georg nämlich, der typisch und unverwechselbar Bocholt war. Kinder und Jugendliche würden unsere Stadt auf älteren Fotos nicht wiedererkennen, wenn die Älteren unter uns ihnen nicht erklären würden, dass es sich um die St. Georgs-Kirche handelt.
Wer die Richtung verloren hat, wer nicht mehr weiß, wo es lang geht, der muss sich nur ein wenig umschauen und wird irgendwann den Turm unserer Kirche erblicken. Versteckt liegt er zuweilen zwischen den Gassen und Straßen, doch wer sich etwas bemüht, findet einen Winkel, einen Fluchtpunkt, eine Perspektive, in der er sichtbar wird. Es ist der Turm in unserer Stadt, der den höchsten Aussichtspunkt bietet. Wer oben auf der Galerie steht, bekommt einen Überblick über die gesamte Stadt. Dem öffnet sich ein Horizont, der bei gutem Wetter bis an den Rhein reicht. Wer dort oben steht, dem gehen ganz andere Dinge auf, dem werden Maßstäbe deutlich, dem werden die Verhältnisse klar. Wer umgekehrt von unten zum Kirchturm hochschaut, sieht, wie spät es ist und was die Stunde geschlagen hat.
Das ist die Aufgabe von Kirche überhaupt – nicht nur in einer Zeit weit verbreiteter Orientierungs-, Ziel- und Richtungslosigkeit wie der unsrigen: den Menschen zu verdeutlichen, was die Stunde geschlagen hat, was dran ist jetzt, was das Gebot der Stunde ist und worin der Sinn ihres Lebens besteht. Es ist zuweilen Aufgabe von Kirche, im Dickicht und in der Komplexität unserer Zeit und gesellschaftlichen Gegebenheiten, Überblick und Durchsicht zu verschaffen, die Verhältnisse richtig zu rücken, Maßstäbe aufzuzeigen, nach denen Leben gelingen kann, glücklich und sinnvoll wird. Es ist Aufgabe der Kirche, die Horizonte aufzuweisen, die über Arbeit und Freizeit, Hab und Gut, Titel und Geltung, ja selbst über diese Welt und unsere Zeit hinausreichen, jenen Horizont am Ende, der bis ins ewige Leben reicht.
Dafür steht unsere Liebfrauenkirche hier. Sie verweist – nicht nur mit ihrem Turm – von der Erde weg in den Himmel. Sie steht dafür, dass das hier – diese Welt – längst nicht alles ist. Sie erinnert uns daran, dass Gott unsere Identität und Selbigkeit durch den Tod hindurchträgt und -hält in das Leben hinein, von dem der Himmel in seiner Weite und Unermesslichkeit im Grunde nur ein bescheidenes Symbol ist. Sie erinnert uns daran, dass wir Menschen und Gottes Schöpfung von ihm her mehr sind als Materie, die ihren Zerfall, und mehr sind als ein bisschen Zeit, die ein Ende fürchten muss.
Auch darum ist unsere Liebfrauenkirche ein identitätsstiftender Ort, so dass das gerade Gesagte gar nicht mal zuerst mit Blick auf die Skyline unserer Stadt, sondern vor allen Dingen auf ihr geistig-geistliches Profil zutrifft. Gerade in dieser Hinsicht wäre unsere Stadt ohne die Liebfrauenkirche nicht das, was sie heute ist! Wie sähe Bocholt heute wohl aus, wenn an dieser Kirche nicht fast 200 Jahre die Minoriten gewirkt hätten – jener Zweig der Franziskaner, der sich neben den Kapuzinern, den Jesuiten und den Dominikanern die Rekatholisierung jener Gebiete auf ihre Fahnen geschrieben hatten, die während der Reformation und der nachfolgenden Glaubenskriege zum damals sogenannten neuen Glauben übergetreten waren. Johann ten Weghe, damaliger Inhaber des Pfarramtes von St. Georg, war – so besagen die Quellen – ein völlig verkommener Pfarrer, der 1570 abgesetzt und aus der Stadt verwiesen wurde. Die Berichte aus jener Zeit sprechen von einem überaus kläglichen kirchlichen Zustand. 1564 war innerhalb von zweieinhalb Jahren nur ein einziges Mal eine hl. Messe gefeiert worden. Seit 1628 haben die Minoriten hier nicht mehr und nicht weniger als Identität gewährleistet. Sie haben dadurch maßgeblichen und bis heute nachwirkenden Einfluss auf die soziologische Gestalt Bocholts gehabt. Zuweilen denke ich, es täte dem ein oder anderen Mandatsträger in unserer Stadt vielleicht mal ganz gut, wenn er sich zwischendurch ab und zu daran erinnern würde, dass die die politische Landschaft prägenden Verhältnisse hier nicht allein in exorbitant hervorragenden parteipolitischen Leistungen, sondern historisch letztendlich in der bis in unsere Tage nachwirkenden Zeit der Minoriten wurzeln. Nicht nur diesbezüglich können wir auf unsere Stadt übertragen, was der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde in einem nahezu sprichwörtlich gewordenen Junktim über den Staat allgemein sagt: „Der freiheitlich säkularisierte Staat“, so Böckenförde, „lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Dafür steht unsere Liebfrauenkirche hier. Sie macht in Stein gewordener Form die Voraussetzungen sichtbar, die uns nicht nur unsere Stadt nicht, die uns nichts und niemand außer Gott und unser Glaube an ihn garantieren kann.
Der Einfluss der Minoriten reichte übrigens auch über die Grenzen unserer Stadt und unseres Landes hinaus. Deshalb ist unsere Liebfrauenkirche ein Ort, der identitätsstiftend auch jenseits Bocholts ist. Was wären jene niederländischen Katholiken jenseits der Grenze, denen es bis 1853 verboten war, ihren Glauben öffentlich zu leben, zu bekennen und zu feiern, wenn sie nicht die Minoriten der Liebfrauenkirche gehabt hätten. Seit 1635 widmeten sie sich mit besonderem Eifer und unter teils äußerst gefährlichen Bedingungen der Seelsorge für die Katholiken im niederländischen Grenzgebiet. Sie bekamen in den Minoriten Seelsorger, die entlang der Grenze Gottesdienststationen – Stichwort Kreuzkapellenweg – errichteten, die Sakramente spendeten und die kirchlichen Grundfunktionen und damit Gemeinschaft mit der Gesamtkirche und Identität im Glauben ermöglichten. Eigens zu diesem Zweck gründeten die Bocholter Minoriten 1651 eine zweite Niederlassung in Zwillbrock, die – unmittelbar an der Grenze gelegen – sich dieser Aufgabe besonders verschrieb.
Als identitäts- und sinnstiftender Ort hatte und hat unsere Liebfrauenkirche nicht zuletzt für viele Menschen auch eine ganz persönliche Bedeutung. Sie verbinden mit dieser Kirche beglückende, trostreiche, aber auch schmerzhafte Momente, so existenzielle Daten wir ihre Taufe, Firmung oder Hochzeit, aber auch den Abschied von Menschen, denen sie sich über deren Tod hinaus verbunden fühlen. Viele Menschen erinnern sich gern ihrer Kinder- und Jugendzeiten in der Knabenschola oder als Messdiener. Für eine Reihe von Betern ist die Begegnung mit dem in der Eucharistie gegenwärtigen Herrn während der Anbetung dienstags und freitags zu einem festen und wichtigen Bestandteil ihres alltäglichen Lebens geworden. Die vielen Kerzen, die jeden Tag vor der Fatima-Madonna brennen, zeugen nicht zuletzt davon, wie sehr unsere Kirche auch in schwierigen Situationen, in problematischen Zeiten und Krisenmomenten ein Zufluchtsort für zahllose Menschen unserer Stadt ist. Manche kommen täglich, bleiben nur ein paar Minuten, zünden eine Kerze an, gehen dann wieder und wissen sich mit ihrem Anliegen doch über den Augenblick hinaus in unserer Kirche gut aufgehoben. Zu welcher Stunde auch immer man die Kirche betritt, immer finden sich Beter in ihr oder Menschen, die sich einfach ein wenig vom Trubel zurückziehen wollen. Der Weg zum Leben von Helga Kock am Brink ist – insbesondere während der Fastenzeit – immer häufiger für auswärtige Besuchergruppen ein gern aufgesuchtes Ziel, um sich auf künstlerisch zeitgenössische Weise mit dem Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi auseinander zu setzen. Nicht zuletzt garantiert die nahezu täglich in unserer Kirche gefeierte Eucharistie, dass sie ein Ort des Gedächtnisses und der Erinnerung bleibt. Gerade die Feier der Eucharistie „hält in uns lebendig, was wir allein vergessen und verlieren würden“, wie es in einem Tagesgebet heißt. Indem wir Jesu Gebot „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ erfüllen, wird die Kirche zur Erinnerungsgemeinschaft.
Dafür steht unsere Liebfrauenkirche hier. Sie verbindet uns über die Jahrzehnte und Jahrhunderte, über die Generationen hinweg nach vorn und nach hinten, mit unseren Vorfahren und mit unseren Nachkommen. Sie ist immer die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie ist Zeugin einer Erinnerungsgemeinschaft, die nicht nur bis zum Jahr 1310, sondern bis zu Jesus Christus selbst zurückreicht und bis zu seiner Wiederkunft ausstreckt. Sie ist plastisch gewordenes kollektives und kulturelles Gedächtnis, weil sie auf die Frage antwortet, was wir auf gar keinen Fall vergessen dürfen.
So ist in „der kirchlichen Architektur … Vergangenheit in immer neuen, manchmal atemberaubenden Baustilen erlebbar“, wirbt die Deutsche Stiftung Denkmalschutz. „Hier spiegelt sich die Geschichte eines Dorfes, einer Stadt oder einer Region. Hier können wir die Fragen, Hoffnungen und die großen geistigen Wandlungen unserer Vorfahren erfassen, die uns heute prägen.“ „Geht es doch um mehr, als den Erhalt kostbarer Baukunst“, so die Stiftung. „Geht es doch um das Selbstverständnis unserer Gesellschaft, um unsere Werte und Traditionen, um nichts weniger, als um die Seele unserer abendländischen Kultur.“
Unsere Liebfrauenkirche ist eine Gedächtnisstütze, ein gesellschaftlicher, kultureller, städtischer, kirchlicher und persönlicher Denkzettel, sie ist monumentale Mnemotechnik, die uns Identität und Selbigkeit garantiert. Wenn wir uns bemühen, sie zu erhalten, bewahren wir nicht einfach ein Gebäude, wir bewahren unsere Gesellschaft, die Kirche als Gemeinschaft der an Christus Glaubenden, unsere Stadt Bocholt und uns selbst vor geistig-geistlicher Amnesie, vor Demenz und mentalem Verfall. Wir wollen Menschen sein, die wissen, wer sie sind. Wir wollen unser Gedächtnis behalten. Dafür steht sie hier, unsere Liebfrauenkirche. Amen.