Referat von Hermann J. Pottmeyer

Schade: Die Amtskirche tut ja doch: was sie will..!
Zum geschwisterlichen Umgang miteinander in der katholischen Kirche


Vortrag im Kolpinghaus Bocholt am 28.11.96


Meine Damen und Herren!

Viele gebürtige Bocholter, auch wenn sie woanders leben, bleiben doch ihrer Heimatstadt verbunden. Mir geht es nicht anders. Deshalb begrüße ich Sie herzlich als
"Liebe Bocholter Landsleute!"

Noch mehr fühle ich mich Ihnen natürlich als Mitchrist verbunden. Den Bocholter Katholiken, nicht zuletzt meinem Heimatpfarrer Clemens Dülmer von Liebfrauen, verdanke ich zu einem guten Teil die Berufung zu meinem Beruf. Deshalb:
Liebe Schwestern und Brüder der Kirche von Bocholt!

Wenn ich mich nicht täusche, spricht der Titel dieser Abendveranstaltung nicht wenigen Katholiken aus dem Herzen. "Schade: Die Amtskirche tut ja doch, was sie will!" Das ist eine deutliche Kritik. Es schwingt aber auch ein Bedauern mit: "Schade!" Gerade in der Kirche könnte und sollte es doch eigentlich anders sein. Wie, dazu sagt der Untertitel etwas: "Zum geschwisterlichen Umgang miteinander in der katholischen Kirche."

Eine geschwisterliche und dialogische Kirche - dieser Wunsch wird in unserem Land immer deutlicher. Vor drei Jahren veröffentlichte das Zentralkomitee der deutschen Katholiken seine Erklärung "Dialog statt Dialogverweigerung. Wie in der Kirche miteinander umgehen", an der ich mitgearbeitet habe. Keine andere Erklärung des Zentralkomitees ist in den letzten Jahren auf ein solches Echo gestoßen. An die 60.000 Exemplare wurden aus den Gemeinden angefordert.

Das Kirchenvolksbegehren im vergangenen Jahr enthielt als erste Forderung: "Aufbau einer geschwisterlichen Kirche." Das in der Diözese Münster angelaufene Diözesanforum ist ein Echo auf diesen Wunsch, und das ist zu begrüßen.

Die erste Frage, die sich uns deshalb stellt: Warum wird der Ruf nach einer geschwisterlichen und dialogischen Kirche immer dringlicher? Haben wir nicht die vielen Pfarrgemeinde- und Diözesanräte, in denen eine Mitsprache stattfindet? Reden die Bischöfe bei Gelegenheit von Firmungen und Visitationen nicht mehr denn je mit den Gemeinden? Ist es nicht so, daß das Leben in den Gemeinden heute immer stärker von der Mitwirkung der Gemeindemitglieder abhängt? Und sind nicht die meisten unserer Bischöfe und Pfarrer - einzelne Gegenbeispiele gibt es immer - gesprächsoffene Menschen?

Auf der anderen Seite mache ich folgende Erfahrung, die mich beunruhigt und mir zu denken gibt: Selten zuvor begegnete ich so vielen wirklich verärgerten, ja oft bitter gewordenen Katholiken. Und dieser Ärger zeigt sich vor allem bei denen, die sich seit langem in Gremien und Gemeinden eingesetzt haben, und bei Religionslehrern und -lehrerinnen, Pastoralreferenten und -referentinnen und schließlich auch bei nicht wenigen Priestern. Und die Tatsache, daß überhaupt ein Kirchenvolksbegehren stattfand, und die Unterschriften vieler waren ein Ausdruck dieses Ärgers und des Protestes. Auffallend ist zudem der wachsende Unmut der Frauen. Man hört bisweilen: Wir sind eine von Männern geleitete und von Frauen getragene Kirche. Wenn es also gerade die aktiven Katholiken sind, die in Gefahr sind, die Motivation für ihren Einsatz zu verlieren, dann ist das mehr als beunruhigend. Es ist eine Katastrophe. Gar nicht zu reden davon daß wir dabei sind, die Jugendlichen, also die Zukunft der Kirche in unserem Land, zu verlieren.

Wir haben es also mit diesem doppelten, eigentlich widersprüchlichen Phänomen zu tun. Auf der einen Seite gab es selten zuvor so viele Katholiken, die in den Gemeinden verantwortliche Aufgaben übernehmen. Auf der anderen Seite wachsen gerade unter diesen Katholiken Ärger und Unmut. Es gibt heute nicht wenige Erklärungsversuche von Fachleuten und Beobachtern für dieses Doppelphänomen. Auch die meisten von uns haben aufgrund eigener Erfahrungen die eine oder andere Erklärung bereit. Wenn auch ich nun einige Gründe zur Klärung beitragen möchte und dabei auch einige kritische Akzente setze, möchte ich eines gleich klarstellen: Ich habe nicht vor, irgendeinem von Ihnen seine ärgerlichen Erfahrungen und seine Enttäuschungen zu bestreiten oder auszureden. Schon gar nicht möchte ich Ihnen Ihre zunehmende Ungeduld nehmen. Wenn wir nicht wirklich beunruhigt sind und unsere Ungeduld nicht sogar noch wächst, wird uns der Aufbruch zu einer geschwisterlichen und dialogischen Kirche gar nicht gelingen, den wir uns doch so wünschen.

Lassen Sie mich also die Suche nach den Ursachen mit einer weiteren Beobachtung beginnen: Dem wachsenden Unmut vieler Katholiken liegt zunächst ein mehr diffuses Unbehagen mit der Kirche, so wie sie ist, zugrunde. Dieses Unbehagen hat eine ernste Ursache. Jahr für Jahr erleben wir, wie die Gottesdienste leerer werden, das Zugehörigkeitsgefühl zur Kirche abnimmt und die christliche Glaubensüberzeugung bei immer mehr Menschen schwindet. Das ist gerade für diejenigen schmerzlich und belastend, die hauptberuflich für und in der Kirche tätig sind, und nicht weniger für die, die ehrenamtlich in den Gemeinden aktiv sind. Sie fragen sich: Ist all unser Mühen umsonst? Und nicht wenige beginnen, an sich selbst zu zweifeln, manche auch an ihrer bisherigen Glaubensüberzeugung.

Tatsächlich ist diese fast lautlose Entfremdung von der Kirche und das, was man das Verdunsten des Glaubens nennt - "Ich glaub nix, mir fehlt nix!" -, in mancher Hinsicht schwerer zu ertragen als offene Feindschaft gegen die Kirche und ausdrückliche Bekämpfung des Glaubens. Dieses Verschwinden läßt einen eben an der eigenen Wirksamkeit und der des christlichen Glaubens zweifeln. Oder aber - das ist eine gewissermaßen den einzelnen entlastende Reaktion - man vermutet die Ursache für all das in der mangelnden Glaubwürdigkeit der Institution Kirche und ihrer notwendigen, aber ausstehenden Reform. Und so kommt es, daß inzwischen bei jeder Diskussion regelmäßig all jene Reformforderungen auf den Tisch kommen, die wir alle kennen und die im Kirchenvolksbegehren gebündelt wurden: Demokratisierung der Kirche, Freistellung des Zölibats, Gleichberechtigung der Frauen und Frauenordination, positivere Wertung der Sexualität und neuer Formen der Partnerschaft, um nur die wichtigsten zu nennen.

Nun meine ich auch, daß bei all diesen Forderungen ein Dialogbedarf besteht und beim einen oder anderen Punkt auch ein Handlungsbedarf. Worauf es mir jetzt aber ankommt, ist dieses: Mit diesen Reformforderungen verbindet sich inzwischen die Hoffnung, ja bei nicht wenigen die Gewißheit, daß mit ihrer Erfüllung auch die Kirchen wieder voll würden. Das aber scheint mir eine Illusion zu sein. Der Blick auf unsere evangelischen Schwestern und Brüder und ihre Kirchen kann uns nachdenklich stimmen. Denn sie erleiden mindestens den gleichen Schwund, obwohl die genannten Forderungen sich bei ihnen ganz oder jedenfalls mehr als bei uns realisiert finden. Ich bin deshalb überzeugt, daß die Herausforderung, vor der wir Christen heute stehen, größer ist und tiefer geht und daß solche Veränderungen nicht die eigentliche Antwort auf diese Herausforderung darstellen.

Ich wiederhole: Gerade weil ich die belastende Erfahrung besonders der aktiven Katholiken und deren Sorge um Christentum und Kirche ernst nehme, möchte ich nicht, daß wir uns einer Täuschung hingeben, die uns noch mehr enttäu- schen müßte. Was mich am Kirchenvolksbegehren gestört hat, war die Gefahr, daß es dieser Täuschung Vorschub leisten konnte. Ich habe aber großes Verständnis für diejenigen, die es aufgrund ihrer Erfahrungen und ihrer enttäuschten Hoffnungen seit dem Konzil unterschrieben haben.

Ich will ein Zweites hinzufügen: Am Kirchenvolksbegehren hat mich auch gestört, daß es den Aufbruch zu einer geschwisterlichen und dialogischen Kirche einseitig von der Kirchenleitung, also von Papst und Bischöfen fordert. Ich weiß, daß das Klima in der Kirche, ihr Erscheinungsbild und ihre rechtlichen Regelungen stark von der Kirchenleitung geprägt werden und abhängen. Aber ob Geschwisterlichkeit und Dialog gelingen, das hängt nicht nur von ihnen, sondern von uns allen ab. Zu Recht betonte das Kirchenvolksbegehren: "Wir alle sind Kirche." Dann hätte es seine Forderung nach einer geschwisterlichen und dialogischen Kirche aber auch an alle in der Kirche richten müssen. Gibt es Fehlverhalten und Hindernisse nur bei denen "da oben"? Sind wir anderen tatsächlich dazu bereit, dem Glauben und der Gemeinde eine erste Priorität einzuräumen?

Soziologische Untersuchungen der letzten Jahre zeigen ein anderes Bild. Auf der Prioritätenliste der Lebensziele stehen auch bei Katholiken in unserem Land Religion und die Weitergabe des Glaubens an die Kinder ziemlich unten. Ich weiß, daß es in den Gemeinden viel Bereitschaft zur Mitarbeit gibt - die Bereitschaft derer, die bereits tätig sind, und die Bereitschaft anderer, die nur in geeigneter Weise angesprochen werden müßten und dafür gewonnen werden könnten. Es besteht aber auch bei vielen die Neigung, erst einmal darauf zu warten, daß sich zunächst bei der Kirchenleitung etwas bewegt, und die einseitige Blickrichtung des Kirchenvolksbegehrens fördert diese Neigung. Gehört aber die Haltung, die eine Reform der Kirche einseitig von oben erwartet, nicht doch noch zu den Rückständen eines überholten Kirchenbildes, eines zentralistisch-klerikalistischen Kirchenbewußtseins, das alles von oben erwartet? Wird nicht unser Warten auf eine Reform von oben leicht zu einer Entschuldigung für unsere eigene Unbeweglichkeit?

Halten wir einen Augenblick inne und überdenken wir das Gesagte: Wir machen die schmerzliche Erfahrung, daß Christentum und Kirche in unserer Gesellschaft an Anziehungskraft und Wirksamkeit verlieren. Das läßt die Frage nach den Ursachen aufkommen. In der innerkirchlichen Diskussion steht für viele die Hauptursache fest: Es liegt an der Institution Kirche, genauer an der unbeweglichen Kirchenleitung und an überholten Strukturen, Traditionen und Morallehren. Mit meinen kritischen Anfragen an das Kirchenvolksbegehren, das ja auch diese Position vertritt, will ich nicht bestreiten, daß wir uns auch dieser Frage stellen müssen. Was an der Institution Kirche bildet ein Hindernis, daß die befreiende Wahrheit des Evangeliums den Menschen von heute nicht recht aufleuchtet? Genau dieser Frage hat sich auch das letzte Konzil gestellt. Wohl möchte ich davor warnen, daß wir uns allein von institutionellen Reformen die Wende erwarten. Einladen möchte ich außerdem dazu, diese Frage nicht nur an Papst und Bischöfe zu richten, sondern auch an uns selber, denn wir alle sind Kirche. Konkret kann diese Frage, die wir an uns selber richten, so lauten: Was können wir schon heute tun, um zu einer lebendigen und geschwisterlichen Gemeinde aufzubrechen, und woran uns kein Papst und Bischof hindern kann und will?

Deshalb nun eine weitere Beobachtung, die uns betrifft und uns eine Ursache zeigt, warum die Kirche in unserem Land an Ausstrahlungskraft verliert. Ich erwähnte schon, daß es zu unserer schmerzlichen Erfahnmg gehört, daß wir angesichts leerer werdender Kirchen an uns uns selber und an der Wahrheit und Wirksamkeit unseres christlichen Glaubens zu zweifeln beginnen. Ja, viele von uns sind dabei, ihr Selbstbewußtsein als Christen, ihr Vertrauen in die Wahrheits- und Lebenskraft unseres Glaubens zu verlieren. Hier tut sich ein Teufelskreis auf. Die schwindende Ausstrahlungskraft des Christentums läßt uns an unserem Glauben zweifeln, die Selbstzweifel wiederum schwächen noch mehr unsere Ausstrahlung als Christen und das wiederum nährt noch einmal verstärkt unsere Selbstzweifel. Das ist wirklich eine teuflische Spirale zunehmender Selbstblockade.

Gefördert wird dieser Vorgang noch dadurch, daß wir viel mehr, als wir ahnen, Kinder unserer Zeit sind. Zum heutigen Zeitgeist gehört die Überzeugung, daß es gar keine letzte Wahrheit gibt oder daß wir zumindest nicht um sie wissen können. Jeder habe seine Wahrheit oder was er dafür halte. Der Moslem habe seine Wahrheit, der Atheist die seine und so auch der Christ. Wer an eine letzte Wahrheit glaube, die zudem noch für alle Geltung haben solle, sei entweder dumm oder verbohrt oder intolerant oder ein Fundamentalist. Alles sei eben relativ, und das anzuerkennen verbürge allein Toleranz. Im übrigen sei der christliche Glaube längst durch die Wissenschaft widerlegt. Und Religion sei überhaupt und bestenfalls Privat- und Gefühlssache, habe im öffentlichen Leben nichts zu suchen und häufig mache sie die Menschen unfrei und ängstlich und hindere sie an ihrer Selbstverwirklichung.

Nun behaupte ich nicht, daß einer von uns eines dieser Dogmen des heutigen Zeitgeistes so unterschreiben würde. Aber das ist das Klima, in dem wir uns als Christen bewegen, und es ist eher unwahrscheinlich, daß wir nicht auf die eine oder andere Weise davon infiziert wären.

Und finden wir dafiir nicht selbst im Leben der Kirche manche Bestätigung? Wurde nicht vieles in der Kirche, in ihrer Liturgie und ihrer Glaubenslehre verändert? Wurde uns nicht im Religionsunterricht gesagt, daß die früheren Traditionen so nicht mehr gelten können? Streiten sich nicht die Theologen, also Fachleute darüber, was noch als Glaubenswahrheit zu gelten habe? Können wir also überhaupt noch genau wissen, was die christliche Botschaft sagt und was sie für unser Leben bedeutet? Und wenn dann noch hinzu kommt, daß unsere religiöse Bildung, unser Wissen vom christlichen Glauben nicht gerade stark ausgebildet ist und wir auch nach der Schulzeit darin wenig Zeit und Kraft investiert haben, dann ist jene Unsicherheit gegeben, die wir bei uns selbst und unseren Mitchristen feststellen.

Wir haben damit viele Fragen angeschnitten, und eigentlich müßten wir auf jede dieser Fragen im einzelnen eingehen. Damit würden wir aber entschieden unsere Zeit und unser Thema heute abend überschreiten. Worauf es mir hier ankommt, ist dieses: Es ist zu einer Verunsicherung der Christen von außen und innen gekommen, die uns unseres Glaubens nicht mehr recht froh werden läßt. Mehr noch als die leerer werdenden Kirchen trägt das zu unserem Unbehagen als Christen bei und verstärkt unseren Unmut, den wir dann in Gefahr sind, allein an der Institution Kirche festzumachen. Oder wir suchen die Schuld einseitig bei uns selber und quälen uns mit einem schlechten Gewissen.

Zur Krise des christlichen Selbstbewußtseins in unserem Land will ich in aller Kürze nur dieses bemerken: Natürlich gibt es Fehler und Versagen, Unbeweglichkeit und Lauheit bei den Leitern wie bei den Mitgliedern der katholischen Kirche. Davon sollten wir uns nüchtern und offen Rechenschaft geben. Aber es gibt keinerlei Veranlassung, die Ursachen für die geringere Anziehungskraft von Christentum und Kirche allein oder hauptsächlich bei der Kirche und bei den Christen zu suchen. Wir leben in einer saturierten, einer satten Gesellschaft, zu deren Bequemlichkeit es gehört, die letzten Fragen zu verdrängen. Christen aus der Dritten Welt, die unser Land näher kennenlernen, äußern sich befremdet über den Flachsinn, der allenthalben herrscht und sich in Blättern wie der Bildzeitung oder in vielen Fernsehsendungen zeigt. Einen wirklichen Hunger nach Gerechtigkeit und Wahrheit und ein ernsthaftes Suchen nach dem Gott der Gerechtigkeit und Liebe gibt es nicht. Wohl gibt es ein vages Unbefriedigtsein mit dem herrschenden Flachsinn und deshalb ein modisches Interesse an Religion und Religionen, an spiritistischen Phänomenen und esoterischen Lehren. Aber das alles kommt über eine Neugier und ein beliebiges "Mag sein, mag nicht sein" nicht hinaus. Die Kosten für diese Bequemlichkeit, die vor allem die Annehmlichkeiten des Daseins auszukosten sucht, werden wir alle zu tragen haben. Die Zunahme der Entsolidarisierung unserer Gesellschaft, der verschiedenen Süchte, der Gewalt, der rücksichtslosen Verfolgung eigener Interessen und der Korruption haben viel mehr mit der Verdrängung der letzten Fragen und der Scheu vor Entscheidung und Bindung zu tun, als wir ahnen. Nein, eine solche Gesellschaft ist wenig offen und bereit für die Botschaft Jesu Christi, die unter allen Religionen und Weltanschauungen den höchsten Anspruch stellt, was Wahrheit und Gerechtigkeit, Solidarität und Liebe angeht. Daß unsere Gesellschaft bisher nicht noch mehr Schaden genommen hat, ist immer weniger der mehrheitlichen Einstellung der heute lebenden Generation zuzuschreiben, sondern dem nachwirkenden christlichen Erbe unserer Vorfahren und jenen zum Glück auch vorhandenen Zeitgenossen, die sich nicht dem herrschenden Flachsinn zu unterwerfen bereit sind.

Wir aktiven Christen sollten also damit aufhören, die Schuld an den leerer werdenden Kirchen einseitig bei uns zu suchen, und wir sollten endlich aus der Defensive zur Offensive übergehen. Wer der Kirche immer noch empfiehlt, sich doch endlich der ach so fortschrittlichen Gesellschaft anzupassen, hat noch nicht bemerkt, daß der Glaube an den modernen Fortschritt selbst in die Krise geraten ist. Man spricht heute vom Ende der Moderne, von der Postmoderne. Diese sogenannte Postmoderne ist aber nichts anderes als die enttäuschte, die selbstkritisch und ratlos gewordene Moderne. Was heute an ein Ende gekommen ist, ist der moderne Glaube an den unaufhaltsamen Fortschritt allein durch Naturwissenschaft, Technik und Politik. Was nicht an ein Ende kommen darf, aber gefährdet ist, ist jener wahre Fortschritt, den die Moderne auch gebracht hat. Es ist die fortgeschrittene Erkenntnis der unbedingten Würde jedes Menschen und der darauf beruhenden Menschenrechte. Diese Überzeugung aber hat nachweisbar ihre Wurzeln in der jüdisch-christlichen Glaubenstradition. Deshalb werden heute die Stimmen lauter - und es sind durchaus nicht nur kirchlich gebundene Stimmen -, die die Rettung dieser Moderne vom Christentum erwarten.

Wenn die Kirche gegen Abtreibung, Euthanasie und Eliminierung des angeblich lebensunwerten Lebens auftritt und für Solidarität und Gerechtigkeit eintritt, dann handelt sie nicht nur der Botschaft Jesu entsprechend. Dann rettet sie auch das, was von der Moderne bewahrenswert ist. Natürlich kann sie damit nicht den Beifall derjenigen finden, die eine ungebundene Freiheit und rücksichtslose Selbstverwirklichung für modern halten. Doch diese angeblichen Verteidiger des modernen Fortschritts sind in Wirklichkeit dessen Totengräber, weil sie uns wieder in die Steinzeit zurückführen, in der nur das Starke und Gesunde überlebte. Wie leicht und schnell diese Steinzeit, in der Kain seinen Bruder Abel erschlug, jederzeit wieder durchbrechen kann, haben wir Deutschen vor 60 Jahren gesehen und wir erleben es heute in den grausamen Bürgerkriegen um uns und als Brutalisierung unserer eigenen Gesellschaft.

Was ferner die Behauptung angeht, der christliche Glaube sei durch die Wissenschaft widerlegt, so ist das genaue Gegenteil der Fall. Je mehr große Naturwissenschaftler in die Geheimnisse des Kosmos und des Lebens vordringen, desto größer wird ihr Staunen und desto mehr sehen sie sich wieder vor die Gottesfrage gestellt. Historiker entdecken, wieviel unsere Kultur trotz vielfachen Versagens der Christenheit dem Christentum verdankt. Sozialphilosophen nehmen wahr, in welchem Maße eine menschenwürdige Gesellschaft von der Anerkennung jener Werte abhängt, für die gerade das Christentum eintritt.

Was schließlich den viele verunsichernden Eindruck angeht, die Kirche selbst sei sich ihres Glaubens und ihrer Wahrheit gar nicht mehr so sicher, so beruht er auf einer oberflächlichen Sicht. Richtig ist, daß es bei den Äußerungen von Theologen manches Verwirrende gibt und daß auch das Lehramt bisweilen in einer Weise spricht und handelt, daß es über die Köpfe vieler Katholiken hinweggeht. Es gibt zweifellos Kommunikationsstörungen in unserer Kirche. Sie werden aber keinen verantwortlichen Theologen finden, der behaupten würde, seine Forschungen hätten den christlichen Glauben als unwahr erwiesen. Was in Wirklichkeit vor sich geht, ist dieses: Die Theologen stellen sich neuen Fragen, weil der christliche Glaube eine Prüfung mit den Mitteln der Vernunft und Wissenschaft nicht zu scheuen bracht. Die Antwort auf neue Fragen fällt aber nicht immer leicht und gelingt auch nicht immer. Für den oberflächlichen Beobachter erscheint das als Unsicherheit.

Und was die Kirche und ihre Reform angeht, entdeckten wir mit Papst Jo- hannes XXIII., daß wir die Kirche Gottes nicht verwechseln dürfen mit ihrer jeweiligen Gestalt, die sie in einer bestimmten Zeit angenommen hat. Die Kirche gleicht dem wandernden Volk Israel, das immer wieder seine Zelte abbrechen mußte, um auf dem Weg zu bleiben, den Gott es führen wollte. So muß auch die Kirche heute in einer sich verändernden Welt eine Gestalt finden, in der sie glaubwürdig und überzeugend dem Kommen des Reiches Gottes dienen kann. Diese Aufgabe läßt uns fragen, was an der bisherigen Gestalt der Kirche ihrer Sendung nicht mehr dienlich, aber aufgebbar ist und was dagegen zum bleibenden Bestand der Kirche nach dem Willen Gottes gehört und nicht aufgegeben werden darf. Diese Unterscheidung ist nicht einfach und hat auch in früheren Zeiten zu Auseinandersetzungen geführt, was einem oberflächlichen Beobachter als Unsicherheit erscheint. Was die Kirche selbst angeht, ist das aber heute die große Herausforderung, der sie nicht aus dem Wege gehen darf.

Nein, wir Christen haben keinerlei Veranlassung, uns und unsere Glaubensüberzeugung zu verstecken: weder vor dem wahren Fortschritt der Moderne noch vor der Wissenschaft oder vor anderen Religionen und Weltanschauungen. Und wir haben allen Grund, wieder ein Selbstbewußtsein als Christen zu entwickeln. Nicht weil wir uns für bessere Menschen halten oder alles besser wüßten, wohl aber, weil wir der ratlos gewordenen Gesellschaft etwas mitzuteilen und zu geben haben, was nicht von uns stammt, sondern von Gott: die Botschaft und das Zeugnis von der erlösenden, befreienden Liebe Gottes zu allen Menschen und vom Kommen seines Reiches.

Jetzt aber möchte ich noch von jener neuen Gestalt von Kirche sprechen, die wir uns als eine geschwisterliche und dialogische Kirche erhoffen. Vorhin habe ich einige kritische Anmerkungen zum Kirchenvolksbegehren gemacht und auch bewußt einige Akzente anders gesetzt als die heute gängige Reformdiskussion. Nun aber möchte ich die positive Seite der innerkirchlichen Reformdiskussion unterstreichen, in die hinein auch das Kirchenvolksbegehren neben vielen anderen Initiativen gehört. Was wir heute erleben, ist eine Frucht des letzten Konzils und sein größter Erfolg. Ich meine das wachsende Bewußtsein: Wir alle sind Kirche. Ein tiefes Gefühl der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und der Verbundenheit mit ihr hat es auch früher gegeben. Die Kirche - das waren aber für viele vor allem Bischöfe und Priester, die für alles in Kirche und Gemeinde tätig und verantwortlich waren. Höchstens in den Verbänden zeigte sich schon ein selbständigerer Laienkatholizismus. Neu ist heute, daß immer mehr sogenannte Laien verantwortliche Aufgaben in den Gemeinden und Diözesen übernehmen, und das mehr als je zuvor. Das hängt nicht nur mit der geringer werdenden Zahl von Priestern zusammen, sondern eben mit dem zunehmenden Bewußtsein: Wir alle sind Kirche. Die Botschaft des Konzils von der Kirche als Volk Gottes und der gemeinsamen Sendung aller Kirchenglieder ist angekommen.

Darüber hinaus hat das Konzil eine zweifache Schwerpunktverlagerung vorgenommen. Wir können auch von einer doppelten Umpolung der Kirche sprechen, die ihre künftige Gestaltung und Gestalt betrifft. Die erste Umpolung hat mit der Struktur der Kirche zu tun und ist nichts weniger als die Aufwertung der Kirche und Gemeinde vor Ort. Unter dem Druck äußerer Anfeindungen hatte die Kirche im 19. Jahrhundert eine stark zentralistische Gestalt angenommen. Rom war immer mehr zum Schwerpunkt der kirchlichen Struktur geworden. Die Kirche stand gewissermaßen auf dem Kopf. Die erste Umpolung durch das Konzil bestand darin, die Kirche wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das Konzil spricht von der Kirche als einer Gemeinschaft von Ortskirchen. Die Kirche baut sich von den Ortskirchen her auf, nämlich von dort her, wo die Gläubigen vor Ort als Gemeinden und als Bistümer Kirche bilden. Die Kirche lebt also zunächst in den Ortskirchen, und jede Ortskirche verdient den Namen Kirche. Wahre Kirche sind die Ortskirchen aber nur in der Gemeinschaft mit den anderen Ortskirchen in der Einheit der Gesamtkirche. An strukturellen Konsequenzen ergibt sich daraus eine größere Eigenständigkeit der Ortkirchen bei der Gestaltung ihres Lebens wie auch die kollegiale Leitung der Gesamtkirche durch das Bischofskollegium mit dem Papst als seinem Haupt.

Das von Jesus eingesetzte Petrusamt des Papstes verliert dadurch nicht an Bedeutung. Im Gegenteil! Je mehr sich die Kirche als Gemeinschaft von Ortskirchen gestaltet und mit deren Eigenständigkeit auch eine größere Vielfalt Platz greift, desto wichtiger wird das Petrusamt als Dienst an der Einheit der Kirche und an ihrer Treue zum Evangelium. Ja, nur eine Kirche, die einen solchen Mittel- und Einheitspunkt hat, kann eine größere Vielfalt zulassen, ohne auseinanderzufallen und als Gesamtheit handlungsunfähig zu werden. Das zeigt das Beispiel der anderen Kirchen, in denen deshalb die Stimmen lauter werden, die sich ein evangeliumsgemäßes Petrusamt für die Ökumene wünschen. In seiner kürzlichen Enzyklika "Ut unum sint" hat der Papst die anderen Kirchen eingeladen, mit ihm das Gepräch über ein ökumenisches Petrusamt aufzunehmen.

Die zweite Umpolung der Kirche durch das Konzil betrifft deren Sendung und bedeutet nichts weniger als die Aufwertung der sogenannten Laien. Auch wenn die missionarische und soziale Tätigkeit der Kirche im 19. Jahrhundert unsere Bewunderung verdient, hatte sich das kirchliche Leben inmitten einer oft feindlichen Umwelt doch stark auf den Gottesdienst und die Feier der Sakramente konzentriert, was auch dem Klerus eine besondere Bedeutung verlieh. Die Mission der Kirche zielte gewissermaßen auf eine Verkirchlichung der Gesellschaft. Das Konzil hat im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft die Akzente verschoben. Es sieht die Kirche dazu gesandt, dem Kommen des Reiches Gottes inmitten der Gesellschaft zu dienen. Der eigentliche Zielpunkt ihrer Sendung liegt also gleichsam außerhalb des Kirchenraumes, nämlich dort, wo sie durch ihre Glieder, vor allem durch die Laien, in der Gesellschaft präsent ist. Die Kirche ist nicht Selbstzweck, sondern - wie sich das Konzil ausdrückt - Sakrament für das Heil der Welt, für das Kommen des Reiches Gottes inmitten der Gesellschaft. Seitdem hat sich auch die Rolle der Laien geändert. Aus den der Hierarchie Untergeordneten sind sie zusammen mit den Amtsträgern und nicht weniger als diese zu Trägern der Kirche und ihrer Sendung geworden. Auftrag der Amtsträger ist es, der Berufung der Laien zum Zeugnis in der Gesellschaft zu dienen.

Diese zweite Umpolung, die die Kirche gleichsam von innen nach außen wendet, ändert nichts daran, daß die Eucharistiefeier weiterhin die Mitte des Gemeindelebens und mit den anderen Sakramenten die Kraftquelle für die Sendung der Gemeindeglieder ist. Sie ändert auch nichts an der bleibend bedeutsamen Aufgabe der Amtsträger, die übrigen Gemeindemitglieder für ihre Sendung zuzurüsten und zu motivieren, sei es durch die Verkündigung des Wortes Gottes, sei es durch die Feier der Sakramente und durch das eigene Beispiel. Aber den Laien ist doch eine Verantwortung für die Sendung der Kirche vor Ort zugewachsen, die ihnen vorher so nichtzugetraut und zugemutet worden war.

Für diese doppelte Umpolung der Kirche - vom Kopf auf die Füße und von innen nach außen - konnte das Konzil nur den Anstoß geben. Es ist, genau besehen, eine revolutionäre Reform, die die Konzilsväter im Sinne hatten, und offensichtlich braucht es Zeit, damit sie sich im Bewußtsein und Handeln aller Beteiligten durchsetzt. Das ist auch nicht verwunderlich, weil sie einen hohen Anspruch an uns stellt. Es hakt noch allenthalben, sowohl beim Abbau des Zentralismus und Klerikalismus wie beim Aufbau einer missionarischen Kirche vor Ort. Die einen sagen: Die Amtskirche tut ja doch, was sie will. Die anderen, die Amtsträger, sagen: Von der aktiven Kerngruppe der Gemeinde abgesehen, läßt uns die Mehrheit der Gemeinde im Stich, weil ihr alles andere wichtiger ist als Glaube und Gemeinde. Und sie sagen weiter: Selbst die in der Gemeinde Aktiven diskutieren lieber über innergemeindliche und innerkirchliche Fragen, als daß sie ihre Verantwortung für die missionarische und soziale Sendung der Kirche wahrnehmen. Vor einigen Tagen erzählte eine CAJ-lerin, Mitglied im Pfarrgemeinderat, wie sie versucht hat, den Pfarrgemeinderat für den Konsultationsprozeß zu interessieren, der von den Bischöfen zur Vorbereitung eines Sozialwortes in Gang gesetzt worden ist und an dem sich auch die Gemeinden beteiligen sollten. Der Pfarrgemeinderat hätte sich kurzerhand für unzuständig erklärt und stattdessen über die nächste Karfreitagsprozession diskutiert.

Was ist an diesen wechselseitigen Vorwürfen richtig? Ganz allgemein möchte ich feststellen: Die Botschaft des Konzils von der Kirche als Volk Gottes ist beim sogenannten Kirchenvolk mehr und besser angekommen als in den oberen Rängen der Kirche. Das betrifft sowohl das Bewußtsein "Wir alle sind Kirche" wie die beiden Umpolungen der kirchlichen Gestalt, von denen ich gesprochen habe. Und gerade weil das so ist, gibt es die Kritik und den Unmut des Kirchenvolkes daran, daß die Neugestaltung der Kirche ins Stocken geraten ist.

In der französischen Zeitschrift "Catholica" las ich vor einigen Tagen: Seit geraumer Zeit habe der römische Zentralismus in einer Weise zugenommen, wie man es nach dem Konzil nicht erwartet habe. Das zeige sich in der Allgegenwärtigkeit des Papstes, in der Auswahl der Bischöfe vor allem nach römischen Gesichtspunkten, in der wachsenden Anzahl römischer Dokumente, in der Blockade vieler Reformanliegen und in der offiziellen Förderung integralistischer Gruppierungen. Dadurch sei es zu einer Art verkappten Schismas in der Kirche gekommen, was sich u.a. in einem deutlichen Autoritätsverlust der Hierarchie zeige, deren Erklärungen immer weniger Beachtung fänden. Meiner Meinung nach ist ein deutliches Alarmzeichen in dieser Richtung gerade der Ausdruck "Amtskirche". Legt er doch quasi die Existenz von zwei Kirchen nahe und verweist so auf jenes verkappte Schisma und auf die eingetretene Distanz.

Diese Entwicklung und manche einzelne Erfahrung stehen hinter dem Vorwurf "Die Amtskirche tut doch, was sie will." Dennoch: Die Amtskirche gibt es nicht, die wie ein Block den Anliegen des Kirchenvolkes im Wege stünde oder keine Beachtung schenkte. Auch dafür gibt es viele einzelne Erfahrungen. Immer mehr Katholiken äußern indes den Wunsch, daß ihre Bischöfe deutlicher sagten, was sie über zentralisierende und integralistische Bestrebungen in der Kirche denken. In den U.S.A. haben in den letzten Monaten eine Reihe von angesehenen Bischöfen damit begonnen, öffentlich ihre Kritik zu äußern. Das hat zu einem öffentlichen Disput unter den amerikanischen Kardinälen geführt. Der angesehenste Bischof der Vereinigten Staaten, Kardinal Bernardin von Chicago, hat einige Monate vor seinem vorhersehbaren Krebstod eine Initiative gestartet, um die Polarisierung in der Kirche durch Dialog zu überwinden. Bei der Begräbnismesse für den Kardinal am Mittwoch der vergangenen Woche sagte der Prediger, daß der Kardinal diese Initiative gestartet habe, um an das große Einigungswerk von Papst Johannes XXIII. anzuknüpfen. In der Kathedrale von Chicago erhob sich ein kaum endender Applaus. Nein, es sind nicht Feinde der Kirche, die heute ihre kritischen und mahnenden Stimmen erheben, sondern besonnene und besorgte Bischöfe, Theologen und Laien. Und eine Vielzahl von Unterschriften unter das Kirchenvolksbegehren stammten nicht von kirchenfernen Christen, sondern von kirchlich aktiven Katholiken.

Was aber ist an dem Vorwurf, daß eine Mehrzahl von Katholiken sich wenig für ihren Glauben interessierten und kaum am kirchlichen Leben teilnähmen? Leider ist es wahr. Meine Behauptung, daß das Bewußtsein "Wir alle sind Kirche" im Kirchenvolk gewachsen sei, gilt vorläufig nur für eine Minderheit - für jene nämlich, die das Leben der Gemeinden tragen. Mit Abweichungen nach oben oder unten, je nach Region und Gemeinde, sind das ca. 25 % der Gemeindeglieder. 75% dagegen rechnen sich zwar noch zur Kirche und bezahlen ihre Kirchensteuer, nehmen auch die Dienste der Kirche dann und wann in Anspruch, lassen aber im übrigen Kirche Kirche sein und lehnen sich bequem zurück.

Das ist übrigens keine spezifisch kirchliche Erscheinung und hat nur bedingt mit dem Erscheinungsbild der Kirche zu tun. Soziologen sehen ganz allgemein unsere Gesellschaft in zwei Klassen zerfallen: in eine Minderheit, die zur Übernahme von sozialer Verantwortung bereit und fähig ist, und eine Mehrheit, die sich in ihrer Freizeit bequem zurücklehnt und sich den Primitivismen der Unterhaltungsindustrie ausliefert. Sie sprechen deshalb von der Erlebnisgesellschaft. Wenn das richtig ist, werden wir auf längere Zeit auch in den Gemeinden mit dieser Zweiteilung in eine engagierte Minderheit und eine Mehrheit zu rechnen haben, die eher eine Konsum-Mentalität hat. Für die aktiven Gemeindeglieder tut sich hier eine Herausforderung und Chance auf, ihr Bewußtsein "Wir alle sind Kirche" auch diesen Mitgliedern zu vermitteln. Denn vermutlich sind in dieser zweiten Gruppe mehr Christen, als es oft den Anschein hat, aufgeschlossen für eine größere Beteiligung, wenn andere aus der Gemeinde in geeigneter Weise persönlich auf sie zugehen.

Was die andere Umpolung der Kirche, diejenige von innen nach außen, angeht, darf ich an das Beispiel der CAJ-lerin erinnern. Tasächlich scheinen mir viele unserer Mitchristen in Lateinamerika und Afrika diese Reform des Konzils entschiedener aufgegriffen zu haben, wenn wir das missionarische und soziale Engagement vieler dortiger Gemeinden mit dem unsrigen vergleichen. Dennoch gibt es auch bei uns Gemeinden, die in diese Richtung aufgebrochen sind.

Zum Schluß möchte ich noch einmal mein Anliegen unterstreichen, daß wir nicht bei Vorwürfen stehenbleiben sollten und in einer abwartenden Haltung. Haben jene großen Frauen und Männer in der Geschichte der Kirche, die durch ihre Hingabe und ihren Einsatz Kirche und Welt verändert haben, auf Papst und Bischöfe gewartet? Den Aufbruch zu einer geschwisterlichen und dialogischen Kirche sollten wir nicht nur von oben erwarten und fordern, sondern schon jetzt bei uns beginnen. Können uns Papst und Bischöfe wirklich daran hindern, und wollen sie das überhaupt? Wenn das Konzil damit recht hat, daß sich Kirchesein fundamental vor Ort in den Gemeinden und Diözesen ereignet und realisiert, dann darf auch der Aufbruch zu einer geschwisterlichen Kirche ruhig von unten beginnen. Wenn das Konzil die Kirche wieder vom Kopf auf die Füße stellen wollte, dann kommt jetzt alles darauf an, daß die Füße auch zu gehen beginnen. Daß wir zu gehen beginnen, nicht weil es die kirchliche Obrigkeit anordnet, sondern weil wir um unsere Berufung als getaufte und gefirmte Christen wissen und davon überzeugt sind, daß Gott durch uns und unser Zeugnis seinem Reich in dieser Welt Gestalt geben will. Zu einem mündigen Christsein, wie das Konzil es wollte, gehört das Bewußtsein: Nicht weil wir Papst und Bischöfe lieben, sind wir in der Kirche, sondern weil wir Jesus Christus lieben, der uns zuerst geliebt hat.

Als viele weggingen, fragte Jesus seine Jünger: Wollt auch ihr gehen? Da antwortete ihm Petrus im Namen der anderen Jünger: "Herr, zu wem sollten wir gehen? Du allein hast Worte ewigen Lebens." (Joh 6,68)




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